Christian Hess (1895 - 1944)
Ein Europäischer Maler

Von Carl Kraus
 

Dr.  CARL KRAUS, geboren 1959
in Sterzing, lebt als freier Kunsthis-
toriker in Innsbruck, tätig als Aus-stellungskurator (zulezt u. a. "Friedrich Wasmann", Schloss Tirol 2006; "Alfons Walde", Turin 2006; "Auf den Spuren von Maurice Denis. Symbolismus an den Grenzen des Habsburger Reichs", Trient 2007), Autor, Gestalter von Fern-sehdokumentationen und gerichtlich beeideter Sachverständiger.

Als die vielbeachtete Wanderausstellung „Tiroler Künstler“ im Sommer 1926 im Münchner Kunstverein ihren Abschluss fand, stieß zu den bisherigen Ausstellern ein neuer Name hinzu: Christian Hess. Neben Größen wie Egger-Lienz, Putz, Nikodem und Walde konnte Hess, der erst zwei Jahre zuvor sein Akademiestudium abgeschlossen hatte, freilich noch nicht reüssieren. Wäre die Schau allerdings drei Jahre später erfolgt, einer Zeit, in der der Maler bereits am Höhepunkt seines Schaffens stand, hätte die Sache anders ausgesehen. Aber da wäre Hess vermutlich nicht mehr sonderlich an der Teilnahme einer Gemeinschaftsausstellung Tiroler Künstler, die ihm großteils nicht auf der Höhe der Zeit erschienen, interessiert gewesen.
Wie kein zweiter Zwischenkriegsmaler mit Tiroler Wurzeln war Christian Hess international orientiert – biografisch gesehen war München sein Mittelpunkt, seine zentrale Inspirationsquelle Sizilien, die Schweiz ein weiterer „Zufluchtsort“ – und seine Beziehungen während seiner entscheidenden Schaffensjahre zum Kulturgeschehen in Tirol waren praktisch nicht vorhanden. So wurde er dann auch, als er 1940 in das mittlerweile zum „Gau“ mutierte Land seiner Kindheit und Jugend zurückkehrte, mehr geduldet als gefeiert. Nach dem Krieg wurden Werke „dieses [inzwischen verstorbenen] koloristischen Talents“ noch einmal auf einer „Exportschau“ in München gezeigt. Dann geriet der Maler wie zahlreiche andere Künstler der „verlorenen Generation“ in völlige Vergessenheit.
Die Wiederentdeckung von Christian Hess erfolgte, von seiner zweiten „Heimat“ Sizilien ausgehend, Mitte der 1970er Jahre. Anlässlich seines dreißigsten Todestages stellte eine in mehreren italienischen, deutschen und österreichischen Städten gezeigte Gedächtnisschau erstmals sein Schaffen umfassend vor. Zutage trat ein Künstler, „der die europäische Kultur eingeatmet hat“, wie ihn der Schriftsteller Leonardo Sciascia bezeichnete, einer auch, der trotz oder gerade wegen der widrigen Zeitbedingungen ein Werk von besonderer inhaltlicher und formaler Dichte schuf. 

Kindheit, Schulzeit, Kriegsdienst 

Tirol steht am Beginn und am Ende der Lebensgeschichte von Christian Hess. Er wird am 24. Dezember 1895 als Sohn des Dominicus und der Rosa Hess in Bozen geboren. Der Vater stammt aus Herlazhofen im Allgäu und arbeitet als Kanzleibeamter, die Mutter kommt aus Oberösterreich. Zwei Schwestern von Christian Hess sterben frühzeitig. Mit Emma, der jüngsten, bleibt er hingegen sein Leben lang eng verbunden. Sie ist es auch, die später mit großer Umsicht seinen Nachlass betreuen wird.
1906 übersiedelt die Familie nach Innsbruck, wo Hess drei Jahre später, nach dem Tod des Vaters, vom Gymnasium in die Staatsgewerbeschule wechselt. Nach deren Abschluss 1913 absolviert er eine Lehre in der Tiroler Glasmalerei- und Mosaikanstalt Mader, welche die ganze Welt mit ihren dekorativen Produkten beliefert. Die weiteren beruflichen Pläne werden zunächst durch den Kriegsausbruch verhindert. Nachdem die Militärverwaltung seine Einberufung aufgrund der familiären Verhältnisse zweimal aufschiebt, wird Hess 1916 doch zum Kriegsdienst eingezogen. Als deutscher Staatsbürger einer bayerischen Pionierkompanie zugewiesen, kommt er an die belgische und französische Front und nimmt u. a. an den Schlachten bei Verdun, an der Somme und an der Aisne teil. Von den Ungeheuerlichkeiten des modernen Massenkrieges ist in seinen Skizzen und für das Heer gestalteten Postkarten nichts zu spüren. Nie mehr werde er ein Gewehr in die Hand nehmen, schreibt er aber später, – außer gegen Hitler (Brief an die Schwester, Jahreswechsel 1934/35).  

Akademiestudium in München 

Im Jänner 1919 nimmt Christian Hess sein Akademiestudium in München auf, in einer Phase, in der die Stadt tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Spannungen unterworfen ist (Revolution von 1918/19, Putschversuch Hitlers 1923). Die folgenden stabileren Jahre bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 sind dementsprechend kurz. Auch in der Kunst gelten in München nicht die Zwanziger Jahre, sondern jene von 1900 bis 1910 – mit dem „Blauen Reiter“ als Kulminationspunkt – als das eigentliche „goldene“ Jahrzehnt in diesem Jahrhundert. Franz Marc und August Macke sind wie unzählige andere im Krieg gefallen, und Wassilij Kandinsky kehrt nach 1918 nicht mehr nach München zurück, sondern übersiedelt an das Bauhaus in Weimar bzw. Dessau. Die Neue Sachlichkeit wiederum, die mit ihrem kühl-distanzierten Blick auf die Wirklichkeit zu dem künstlerischen Ausdruck der Zeit wird, besitzt in München zwar ein breites Forum, mehrere ihrer Hauptvertreter, wie Alexander Kanoldt oder Heinrich Maria Davringhausen, verlassen aber bald die Stadt (und die wichtigsten, betont sozialkritischen neusachlichen Maler, George Grosz und Otto Dix, arbeiten in Berlin und Dresden).
Nichtsdestotrotz bietet die Kunststadt München um 1920 ein vielfältiges Bild verschiedenster Strömungen, wobei grundsätzlich das Pendel nach dem stürmischen Aufbruch zu Jahrhundertbeginn nun mehr in Richtung Rückkehr zur Tradition und zum Dinglichen ausschlägt. Die Akademie versteht sich hingegen per definitionem eher als konservativ und die meisten Professoren vertreten bestenfalls eine gemäßigte Moderne, so auch der Leiter für Monumentalmalerei Carl Johann Becker-Gundahl (1856–1925), in dessen Klasse Hess eintritt. Zunächst zeittypischen, formal der Freilichtmalerei verpflichteten „Armeleute“-Themen zugewandt, tat sich Becker-Gundahl später vor allem durch seine kirchlichen Wandbilder hervor, deren strenge Stilisierung nach 1910 zuweilen expressiven Ansätzen weicht. Für Hess und auch seine Mitschüler, zu denen u. a. die späterhin bekannten Jean Egger (1918–22 bei Becker-Gundahl) und Sergius Pauser (1920–24) zählen, bedeutet das Akademiestudium eine erste Basis, mehr nicht. So verbindet sich in seinem Frühwerk einerseits die unbefangene Natursicht der Freilichtmalerei mit einer gestisch-expressiven Auffassung, andererseits mit der strengen Kompositionsweise Cézannes. Hess’ spezifische Begabung für farbige Werte wird dabei bereits jetzt deutlich: „Die Landschaftsaquarelle von Ch. Hess könnten sich trotz ihrer Jugend schon in der Aquarell-Ausstellung der Neuen Sezession sehen lassen“, schreibt ein Rezensent anlässlich der ersten Präsentation des Malers in München im März 1920. „Eine stille, heiße Liebe für die Natur atmet aus ihnen und ein ungemein entwickelter koloristischer Sinn.“ Das Kopieren nach Alten Meistern wie Tizian, Veronese und Velasquez, mit dem er seine wirtschaftliche Situation aufbessert, mag für ihn diesbezüglich durchaus förderlich gewesen sein. 

Schlüsselerlebnis Sizilien 

Im Frühjahr 1925 reist Hess erstmals nach Italien. Die erste Station führt ihn nach Florenz, wo er in den Uffizien und im Palazzo Pitti wiederum Gemälde der Alten Meistern kopiert. Mit großen Erwartungen bricht er dann weiter nach Messina auf, denn seine jüngere Schwester Emma, die seit kurzem in der sizilianischen Hafenstadt verheiratet ist, hatte ihm begeisterte Briefe von dort geschrieben. Und sie hatte ihm nicht zuviel versprochen. Schon die ersten Eindrücke in Sizilien erschließen dem Maler eine völlig neue Welt: mit ihren in alten Traditionen eingebetteten Menschen, mit der von antiken Mythen durchpulsten Landschaft, mit dem unvergleichlichen mediterranen Licht. Dies sei das Paradies, schreibt Hess seinen Künstlerfreunden nach Deutschland, und wenngleich er nur langsam Äquivalente für sein künstlerisches Erleben findet, weiß er, dass ihn dieses Land nicht mehr loslassen wird. Auf Malexkursionen in die Umgebung von Messina, nach Taormina, Monreale, Palermo und die antiken Stätten von Selinunt, Syrakus und Agrigent findet er immer neue Impulse für sein Schaffen, fernab jedoch des dem Pittoresken zugewandten touristischen Blickes. Damit reiht sich Hess in eine lange Reihe deutscher Maler ein, die seit dem frühen 19. Jahrhundert in Sizilien der „Harmonie von Himmel, Meer und Erde“ (Johann Wolfgang von Goethe) nachspürten.
Bereits im Dezember 1926 reist Christian Hess erneut nach Messina, diesmal mit seiner langjährigen Lebensgefährtin, der bekannten Münchner Sängerin Marya Neitzel. Im Herbst 1927 kommt der Maler wieder allein nach Sizilien, um hier für mehrere Monate zu arbeiten. Nachdem er die Villa der Industriellenfamilie Mayer in Wismar/Mecklenburg mit sizilianisch inspirierten Wandbildern ausgestaltet hat, kündigt er der Schwester im Sommer 1928 seinen nächsten Aufenthalt hat an:
„Bestimmt fahre ich nach Girgenti u. Palermo. Es wird fabelhaft! Also meine vielgeliebte -gesuchte Badehose – va bene – sie wird noch passen. Certo. Ich bin viel sicherer geworden in allem und werde mehr zuwege bringen als das letzte Mal. Ich bin arbeitsfroh und lustig! Sempre allegro! Freu mich schon auf das gute ital. Essen, der Wirtshausfraß hier (jeden Abend Tiroler Gröstl für 30 Pfennig) behagt mir nicht.“
Als nach weiteren Sommeraufenthalten 1929 und 1930 die Schwester ihre Übersiedlung in einen anderen Ortsteil Messinas ankündigt, schreibt der Maler voller Wehmut: „Da du nun vielleicht doch die Wohnung auflöst, ist einerseits ja sehr schade – d. h. meinetwegen, weil ich die Terrazza so liebe und den schönen Blick aufs Meer u. nicht zum Wenigstens, daß so viele schöne Erinnerungen an dort verbrachte Stunden daranhängen. Ich wünsche Dir wahrhaftig eine Villa, mit dem größten Komfort d. h. ein richtiges WC mit echter Wasserspülung u. Bad. Aber mir ist so, als ob ich meine Heimat verlieren würde, wenn Du aus der Palmara wegzögst. War ja jetzt doch schon 5mal da und spielt dies Milieu in meiner künstl. Entwicklung eine nicht unbeträchtliche Rolle.“
Im Sommer 1931 reist Hess zusammen mit dem Maler Adolf Hartmann und weiteren Freunden nach Messina (im Winter ist er mit Josef Scharl in Rom). Längere Aufenthalte folgen schließlich 1933/1934 – in diese Zeit heiratet er hier die Schweizer Theologin und Sozialarbeiterin Cecilia Faesy – und von 1935 bis 1938. 

Bei den Münchner Juryfreien 

Weitere entscheidende Momente im Künstlerleben von Christian Hess fallen in die späten Zwanziger Jahre in München. Zum einen treten Max Beckmann und Karl Hofer in sein näheres Gesichtsfeld, die ihm in seiner Suche nach einer neuen Konzentration der Form wichtige Impulse geben (bezeichnenderweise widmet er sich nun verstärkt auch der Plastik). „Er sucht das Vielfache in der Natur auf eine einfache, starke malerische Ausdrucksform zu bringen“, registriert die Kritik diese für den Maler richtungsweisende Entwicklung und stellt dabei fest, dass er sich dadurch vom „Zerfahrensein“ anderer Münchner Zeitgenossen wohltuend abhebt. Der Vergleich des „Esels unter Kakteen“ von 1925 mit dem wenige Jahre später entstandenen „Widder unter Kakteen“ macht die neue verfestigte, plastisch-geschlossene Formensprache von Hess augenscheinlich.
Zum anderen schließt sich Hess 1929 der Künstlervereinigung „Die Juryfreien“ an, die bereits seit 1907 besteht, nun aber neu belebt wird und sich als fortschrittlichste Münchner Gruppierung in diesen Jahre positioniert. Neben den eigenen Mitgliedern präsentieren die Juryfreien auch bedeutende Informationsausstellungen, so z. B. über zeitgenössische Architektur oder die „
Ausstellung Abstrakte und Surrealisten“ (1929) mit Werken u. a. von Hans Arp, Willi Baumeister, Constantin Brancousi, Max Ernst, Paul Klee, Konstantin Malewitsch, Juan Miró, Piet Mondrian, Pablo Picasso und Gino Severini. Es spricht für die Offenheit von Hess, dass sich in seinem Schaffen auch zu mehreren dieser Künstler, im Besonderen zu Picasso, Bezüge finden.
Christian Hess kann sich innerhalb der Gruppe gleich profilieren: „Die Juryfreien an der Prinzregentenstraße formieren sich zusehends als vielversprechende (und Verheißungen auch schon wahrmachende) Gruppe [...] Ich notiere mir einstweilen Christian Hess, Josef Scharl, auch Bock, Fritz Burkhardt, Graßmann, Panizza, Unseld, von den Plastikern Spengler und Zeh“ (Wilhelm Hausenstein, in: Kunstnotizbuch, Juli 1929). In der Folge nimmt Hess regelmäßig an deren Ausstellungen teil, insbesondere in München, aber u. a. auch in Düsseldorf, Nürnberg, Leipzig, Danzig und Berlin. Für die Reputation des Malers in dieser Zeit sprechen ebenso die wiederholte Teilnahme an Ausstellungen der Münchner Secession im Glaspalast (wo beim verheerenden Brand vom 6. Juni 1931 u. a. auch mehrere seiner Werke vernichtet werden), der Auftrag für Wandgemälde in der Heilbadeanstalt Oeynhausen (Westfalen), der Ankauf eines Werkes durch die Städtische Galerie im Lenbachhaus und das Heranziehen zweier seiner Arbeiten als Titelbilder der bekannten Münchner Zeitschrift „Jugend“. Dennoch muss er sich ständig mit Geldsorgen herumschlagen, leben um 1930 in München doch an die 2.000 Künstler, die sich etablieren wollen. 

Politik ist das große Thema 

Als bei einer Versammlung des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ in München im März 1931 Christian Hess, Adolf Hartmann, Günther Graßmann und Wolf Panizza von der SA hinausgeworfen (und die beiden letzteren auch blutig geschlagen) werden, wirkt dies wie ein böses Omen. „Die Zustände in finanzieller Hinsicht waren noch nie so katastrophal“, schreibt Hess im Juni 1932 an die Schwester. „Wo man hinkommt u. wen man anspricht, alles jammert über Geldmangel [durch die Weltwirtschaftskrise ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf 6,1 Millionen angewachsen] und Politik ist das große Thema.“ Ein gutes halbes Jahr später ist Hitler an der Macht und der Führer selbst legt noch im selben Jahr in München den Grundstein für das „Haus der Deutschen Kunst“ – während die Juryfreien, deren Galerieräume genau gegenüberliegen, als „kulturbolschewistische“ Vereinigung aufgelöst werden (1934). Was deutsche Malerei zu sein hat, macht Hitler spätestens in seiner Rede zur Eröffnung des Hauses der Deutschen Kunst 1937 in unmissverständlicher Weise klar: „Kubismus, Dadaismus, Futurismus, Impressionismus usw. haben mit unserem deutschen Volke nichts zu tun. Denn alle diese Begriffe sind weder alt noch sind sie modern, sondern sie sind einfach das Gestammel von Menschen, denen die wahrhaft künstlerische Begabung fehlt. Wir werden daher einen unerbittlichen Säuberungskrieg führen gegen die letzten Elemente unserer Kulturzersetzung.“ Eine Umsetzung dieser Ankündigung ist die Schau „Entartete Kunst“, in der die gesamte Moderne von Marc bis Kandinsky und von Hofer bis Beckmann verfemt wird.
Bereits die Reise von Hess 1933 nach Sizilien kommt einer Flucht gleich, um hier ohne Repressalien arbeiten zu können (das faschistische Italien hegt gegenüber den modernen Künstlern eine weit liberalere Haltung als das NS-Regime). Um so mehr aber im Jahr 1935, als er gemeinsam mit seiner Frau Cecilia samt Bildern und Hausrat nach Messina übersiedelt. Durch die baldige Trennung von ihr und das zunehmende Gefühl der Isolation – trotz der innigen Beziehung zur Schwester und deren Familie – findet er jedoch nicht mehr zum gewohnten Lebens- und Arbeitsrhythmus. Schwere psychische Probleme bringen ihn bis an den Rand des Selbstmords. So sieht er für sich keinen Ausweg, als zunächst in die Schweiz (wo er sich bereits 1934/35 länger aufgehalten hatte) und nach Ablauf der dortigen dreimonatigen Aufenthaltsgenehmigung im Oktober 1938 nach München zu ziehen.
Hier sucht er einige seiner alten Künstlerkollegen auf, die z. T. von der Stadt auf die umliegenden Dörfer ausgewichen sind. Andere trifft er nicht mehr an. Oskar Zeh, für dessen Witwe Hess in Oberwössen ein Cafè mit Wandbildern dekoriert, hatte sich 1935 erschossen. Josef Scharl, dessen von van Gogh inspiriertes Bild „Mann am Fenster“ genauso wie Werke von Hartmann und Graßmann (und u. a. auch von Putz und Weber-Tyrol) in der Münchner Städtischen Galerie konfisziert wurde, emigriert am Jahresende in die USA. Hess versucht sich, so weit möglich, mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren, verlebt sogar eine kurze glückliche Zeit mit einer jungen Frau, die gute Beziehungen zum Regime hat und ihm Aufträge verschaffen kann. Auch erreicht er die Aufnahme in die Reichskulturkammer, ohne die kein Künstler in Deutschland arbeiten darf. Durch die Einberufung zum Kriegsdienst bei der Reichspost sowie die akute Verschlechterung seines Gesundheitszustandes kann Hess aber schon bald nur mehr eingeschränkt seinem Schaffen nachgehen.  

Rückkehr nach Tirol  

Vom Kriegsdienst enthoben, zieht Hess im Dezember 1940 zu Verwandten nach Axams bei Innsbruck. Nachdem er sich gesundheitlich gut erholt, ist er „wieder ganz Tyroler geworden und [...] sehr glücklich hier auf dem Land u. in dem Gamsgebirg.“ Nur hat er Schulden, dass ihm „die Haare zu Berge stehen“ (Brief an die Schwester, 7. April 1941). So ist er gezwungen die verschiedensten Auftragsarbeiten zu übernehmen, von Stammbäumen bis zu einer Arbeit für das Propaganda-Amt, die am Bahnhofsplatz aufgestellt wird. Die Situation wird für ihn etwas erleichtert, als ihm von Max von Esterle, dem Landesleiter der Tiroler Kunstkammer, ein Atelier in der Alten Universität zugewiesen wird. An den „Gau-Kunstausstellungen Tirol-Vorarlberg“ beteiligt er sich jedoch nur ein einziges Mal, 1942 mit einer „Mythologischen Komposition“. Auch strengt ihn die Arbeit durch die Verschlechterung seines Tuberkuloseleidens zunehmend an. „Ich werde auch immer grantiger u. alle Leut sind mir lästig mit ihrem Gequatsch. Meine einzigen Freunde sind griech. Dichter und mein Viertel Rotwein“ (Brief an die Schwester, 31. Juli 1942). Als er dennoch einmal im Gasthaus seine Abneigung gegenüber dem Regime kundtut, kann ihn nur die Fürsprache Esterles, der allgemein um den Schutz der Künstler vor Übergriffen der Politik bemüht ist, vor der Inhaftierung retten.
Als im Herbst 1944 regelmäßig die Bomben der Alliierten auf Innsbruck fallen, ist Christian Hess „nie in einen Luftschutzraum gegangen, er sagte immer, ‚wenn’s mich trifft ist nicht viel hin’. So war auch es 2 x in der Meranerstr., 1 x in der Werkstelle wo er arbeitete, am schwersten aber bei uns Daheim in der Haspingerstr. [am 20. Oktober 1944]. Dort ist er im Garten im Liegestuhl gelegen als das ganze Viertel um ihn in Trümmer ging, er ist fast könnte man sagen wie ein Wunder herausgekommen. [...] Seit dieser Zeit ist es aber rapid mit ihm
abwärst gegangen, da der ganze Staub und die Glassplitter seiner Lunge sehr schadeten“ (aus einem Brief von Hess’ Cousine Paula, bei der der Maler in den letzten beiden Jahren großteils lebt, 20. November 1947). Vier Tage nachdem er in das Krankenhaus von Schwaz eingeliefert wird, stirbt Christian Hess am 26. November 1944, kurz vor seinem 49. Geburtstag. Ohne, dass die Öffentlichkeit davon Notiz nimmt, wird er am Innsbrucker Westfriedhof begraben.  

Ein europäischer Maler 

Die künstlerische Gegenwelt zu dem von den Spannungen der Zeit gezeichneten Leben Christian Hess’ ist eine auf Ausgleich bedachte, nach klassischer Schönheit strebende, hinter der aber die Erfahrung des Expressionismus stets präsent bleibt. So zieht sich das Gefühl des Geworfensein und die sich daraus ergebende Melancholie wie ein roter Faden durch das Werk, in besonders direkter Weise etwa im großartigen „Schachspieler“, bei dem die Figur halb gelassen, halb resignierend zwischen Schachspiel und dem perspektivisch verzerrten Billardtisch eingespannt erscheint – im großen Spiel der Politik ist der Mensch eine kleine Figur, die der Willkür der Spieler ausgesetzt ist. Manches in dem Bild wie auch in anderen erinnert an Beckmann (z. B. an dessen „Selbstbildnis mit Saxophon“ von 1930): die groß gesehene plastische Form mit ihren schwarzen Konturen und kräftigen Licht-Schatten-Kontrasten, die freie malerische Modulierung, in der Schwarz und Weiß grundlegende Farbwerte darstellen, die magische Ding- und Raumwirkung. Bei Hess bleibt jedoch alles mehr „peinture“, stilllebenhafter, und statt der visionären Metaphorik Beckmanns zeugen seine Bilder zumeist von der Sehnsucht nach klassischer Idealität. Damit steht der Maler Karl Hofer und den Künstlern der Valori Plastici näher als Beckmann. Modelle, Liegende und Badende gehören bezeichnender Weise mit zum bevorzugten Inventar der Hess’schen Bilderwelt, umgesetzt in einen nuancenreichen Kolorismus mit zuweilen eigenwilligen Akkorden zwischen Rosa, Violett und einem spezifischen grünlichen Gelb. So erkennt man in den in einen kubistischen Hintergrund eingebetteten „Drei Modellen“ zugleich junge modische Frauen der Zwanziger/Dreißiger Jahre als auch die Drei Grazien der Antike.
Den großen Widerschein zeitloser Klassizität findet Hess aber in Sizilien. Fischer, Matrosen und Bauern bei der seit Jahrhunderten unverändert gebliebenen Arbeit, Wahrsager und Frauen am Meer, die mythisch empfundene Landschaft regen ihn zu einer Vielzahl an Bildschöpfungen an. Geprägt von plastisch-tektonischer Bildstruktur und verhaltener Feierlichkeit, kommen sie mitunter den Werken eines Carrà und Casorati nahe. Zu diesen klassisch-italienischen Kompositionen zählen die “Tauben auf der Terrasse“, die mit ihrer Friedenssymbolik nicht zufällig im Jahr 1933 entstehen.
Die intensive Auseinandersetzung mit den reinen Form- und Farbwerten hat Hess in den Dreißiger Jahren auch zu Städtebildern und Stillleben mit hohem Abstraktionsgrad geführt: die in die Fläche projizierten kubischen Häuser eines sizilianischen Ortes mit dem farbigen Dreiklang Rostrot-Schwarz-Weiß etwa oder das gleichfalls kubistisch angelegte, mit vereinfachten Naturformen und Schriftzeichen spielende “Stillleben mit La Gazzetta“. Mit der sonstigen Tiroler Malerei der Zeit wenig gemein, unterstreichen sie den europäischen Zuschnitt des Malers.

Für die großzügige Unterstützung und Bereitstellung von Dokumentationsmaterial danke ich den Nichten des Künstlers Luisa Ardizzone (Rom) und Antonia Cinquegrani (Messina) mit Familien sowie Frau Leonore Neitzel (München) herzlich.
Der Arbeiten von Domenico M. Ardizzone, Nuccio Cinquegrani und der Associazione Culturale Christian Hess bildeten wichtige Grundlagen für die Bearbeitung dieses Beitrages.

       

Modell im Atelier, um 1932, Öl auf Leinwand, 44 x 70 cm, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum,  Innsbruck

Esel unter Kakteen, 1925,
Öl auf Leinwand, 55 x 80,5 cm, Privatbesitz

Boote am Strand, 1932,
Öl auf Leinwand, 79 x 98 cm, Privatbesitz, courtesy Bozner Kunstauktionen

Schlafendes Mädchen auf gelbem Kissen, um 1930, Öl auf Leinwand , 84 x 101 cm Bozen, Museion
       


Widder unter Kakteen, um 1930,
Öl auf Leinwand, 100 x 80 cm, Bozen, Museion


Der Schachspieler, 1931, Öl auf Leinwand , 94 x 74 cm, Bozen, Museion


Knabenbildnis, um 1926, Terrakotta, Höhe 30 cm, Privatbesitz, courtesy Galerie Maier, Innsbruck


Drei Modelle, um 1932,  Öl
auf Leinwand, 59 x 93 cm, Privatbesitz

       


Bracciano, wohl um 1932, Öl auf Leinwand, 60 x 69 cm, Privatbesitz


Rot-schwarze Hauser, wohl um 1933, Öl auf Leinwand, 58 x 68 cm, Bozen, Museion



Stillleben mit La Gazzetta, 1933, Öl auf Leinwand, 58 x 77 cm, Privatbesitz


Fische, 1937, Thsche, 26,5 x 34,2 cm, Privatbesitz

     

Tauben auf der Terrasse, 1933, Öl auf Leinwand, 60 x 80 cm, Privatbesitz

Wahrsager, 1933, Öl auf Leinwand, 120 x 100 cm, Privatbesitz

Christian Hess 1929

Stürzender Torso, um 1930,
Öl auf Leinwand , 68 x 95 cm,
Privatbesitz
     

Zwei Modelle, um 1932, Öl auf Leinwand , 63 x 48 cm, Privatbesitz, courtesy
Galerie Maier, Innsbruck

Monreale, 1928, Öl auf Karton, 27 x 39 cm, Museum Rabalderhaus, Schwaz







Selbstbildnis, um 1935/40,
Rötel, 41,4 x 31 cm,
Privatbesitz, courtesy
Galerie Maier, Innsbruck

     


Biografische Daten

 

1895 - Alois Anton Dominicus Hess (auch Heß), der sich später Louis Christian bzw. nur Christian Hess nennt, wird am 24. Dezember in Bozen als Sohn des aus dem Allgäu stammenden Beamten Dominicus Hess und seiner Frau Rosa geb. Mayer geboren. Er hat noch drei Schwestern: Berta (1893–1915), Rosa (1899 - 1905) und Emma (1902–1973).

1906 - Übersiedlung mit der Familie nach Innsbruck.

1909 - Nach dem Tod des Vaters Wechsel vom Gymnasium auf die Staatsgewerbeschule in Innsbruck (Prof. Heinrich Comploj).

1913 - Nach dem Schulabschluss Lehre in der Tiroler Glasmalerei- und Mosaikanstalt Mader, zeitweise auch in der Keramikwerkstätte Kuntner in Bruneck.

1916 - 18   Zum Kriegsdienst eingezogen; kommt als deutscher Staatsbürger mit der bayerischen Pionierkompanie Nr. 3 an die belgische und französische Front.

1919 - Ab Jänner Studium an der Münchner Akademie bei Carl Johann Becker-Gundahl. Zu seinen Studienfreunden zählen die Maler Florian Bosch, Franz Gebhardt, Adolf Hartmann und Siegfried Kühnel sowie der Bildhauer Benno Miller.

1920 - Beteiligung an der „Ausstellung junger Münchner“.

1921 - Mit einem Stipendium Reise nach Skandinavien.

1922 - Erste von mehreren Reisen nach Wien um Werke Alter Meister zu kopieren.

1924 - Akademieabschluss; erhält mehrere Porträtaufträge.

1925 - Reise über Florenz nach Messina, wo seine Schwester Emma lebt. Sizilien wird für Hess in der Folge zur zentralen Inspirationsquelle.

1926 - Erstmals an einer Ausstellung der Münchner Secession beteiligt, Teilnahme auch an der Ausstellung „Tiroler Künstler“ in München. Wendet sich ab dieser Zeit verstärkt auch der Plastik zu. Lebensgemeinschaft mit der Sängerin Marya Neitzel, mit der er im Dezember nach Messina reist.

1927 - Viermonatiger Sizilien-Aufenthalt.

1928 - Lernt Max Beckmann kennen, der ihm wichtige Schaffensimpulse gibt. Fresken in der Villa des Industriellen Mayer in Wismar (Mecklenburg); Ausstellungsbeteiligung in Berlin; erneut in Sizilien.

1929 - Tritt der progressiven Münchner Künstlervereinigung „Die Juryfreien“ bei, mit der er in der Folge regelmäßig ausstellt. Hess kann sich neben Günther Graßmann, Adolf Hartmann, und Josef Scharl als eines der führenden Mitglieder etablieren; Sommeraufenthalt in Sizilien.

1930 - Wandgemälde in der Heilbadeanstalt in Bad Oeynhausen (Westfalen). Verkauf eines Gemäldes auf Vermittlung von Karl Hofer nach Zürich; lernt in der Schweiz die Theologin und Sozialarbeiterin Cecilia Faesy kennen, die hier für ihn zur Vermittlerin von Werken wird; Sommeraufenthalt in Sizilien.

1931 - Beim Brand des Münchner Glaspalastes am 6. Juni, bei dem 3.000 Kunstwerke ein Raub der Flammen werden, wird u. a. Hess’ Triptychon “Am Wasser“ vernichtet. Ausstellungsbeteiligungen in Nürnberg, Danzig und Königsberg. Im Sommer zusammen mit Adolf Hartmann in Sizilien, im Dezember mit Josef Scharl in Rom.

1932 - Ausstellungsbeteiligungen u. a. in München, Düsseldorf, Nürnberg, Danzig und Leipzig. Im Ausschuss der Juryfreien.

1933 - Die restriktiven kulturpolitischen Verhältnisse nach der Machtübernahme Hitlers lassen Hess im Sommer nach Messina übersiedeln.

1934 - Im August Heirat mit Cecilia Faesy, mit der er anschließend nach Luzern zieht. Die als “kulturbolschewistisch“ eingestuften Juryfreien werden in München aufgelöst.

1935 - Im März Übersiedlung nach Messina zusammen mit seiner Frau, die sich aber noch im Winter dieses Jahres von ihm trennt.
1938 - Im Mai Rückkehr in die Schweiz, wo er eine Zeitlang beim jungen Maler und Kunstschriftsteller Jürg Spiller in Liestal Unterkunft findet; im Oktober Rückkehr nach München.

1939 - Zum Kriegsdienst eingezogen und der Reichspost zugewiesen.

1940 - Erreicht im Jänner die Aufnahme in die Reichskulturkammer. Nach einer schweren Lungenerkrankung Einlieferung in das Krankenhaus Schwabing, später in die Heilanstalt Planegg. Aus dem Kriegsdienst entlassen, zieht Hess im Dezember zu Verwandten nach Axams bei Innsbruck.
1941 - Wohnt in einem Gasthaus in Grinzens. Verschlechterung des Gesundheitszustandes.
1942 - Von Max von Esterle, dem Landesleiter der Kammer der bildenden Künste in Tirol-Vorarlberg, wird ihm ein Atelier in Innsbruck zugewiesen. Auftrag für Wandbilder im Rathaus von Zirl (nicht erhalten); Teilnahme an der 3. Gau-Kunstausstellung in Innsbruck mit einer “Mythologischen Komposition“.
1943 - Wohnt ab dieser Zeit großteils bei seiner Cousine Paula Hess in Innsbruck.
1944 - Stirbt am 26. November im Krankenhaus von Schwaz, nachdem der Staub der Bomben auf Innsbruck sein Tuberkuloseleiden zusätzlich verschlechtert hatte.

 

Literatur (Auswahl)

Zweijahrbuch 1929/30 deutscher Künstlerverband die Juryfreien München, mit Beiträgen von H. Eckstein, O. M. Graf, W. Petzet und F. Roh, München 1930;
Christian Hess, Ausstellungskatalog, mit Beiträgen von D. M. Ardizzone, N. Cinquegrani, H. Eckstein und M. Venturoli, Palermo 1974;
Christian Hess, Ausstellungskatalog, bearbeitet von G. Ammann, Innsbruck 1976;
Österreichs Avantgarde 1900–1938. Ein unbekannter Aspekt, Ausstellungskatalog, bearbeitet von O. Oberhuber und P. Weibel, Wien-Innsbruck 1976;
Die Zwanziger Jahre in München, Ausstellungskatalog, herausgegeben von Ch. Stölzl, München 1979;
Abbild und Emotion. Österreichischer Realismus 1914–1944, Ausstellungskatalog, mit Beiträgen von W. Drechsler, G. Koller, O. Oberhuber, O. Sandner und M. Wagner, Wien-Bregenz 1984;
Expression – Sachlichkeit. Aspekte der Kunst der 20er und 30er Jahre Tirol-Südtirol-Trentino, Ausstellungskatalog, mit Beiträgen von G. Ammann, G. Belli, A. Hapkemeyer, S. Hirn, C. Kraus und P. L. Siena, Innsbruck-Trient-Bozen 1994/95;
C. Kraus, Zwischen den Zeiten. Malerei und Graphik in Tirol 1918–1945, Lana-Bozen 1999;
N. Cinquegrani, Pitture come poesie / Gemalte Gedichte. Colloquio immaginario con Christian Hess e i suoi personaggi, Messina 2003;
P. Naredi-Rainer / L. Madersbacher (Hrsg.), Kunst in Tirol, 2 Bände, Innsbruck 2007; Im Spiegel der Wirklichkeit, Ausstellungskatalog, Einführung von M. Boeckl, Bruneck 2007; Christian Hess, Ausstellungskatalog, bearbeitet von C. Kraus, Schwaz-Bozen 2008/09

Homepages im Internet

www.christian-hess.net
www.louis-christian-hess.com