Der Maler Christian Hess
Hans Eckstein

Vom Katalog: Christian Hess - Palermo 1974
 

Die zwanziger Jahre waren für die jungen Künstler in München nicht so golden, wie sie in literarischen Rückbilden dargestellt werden. Neuen künstlerischen Visionen, neuen Formen in der Malerei, Skulptur und Architektur war die traditionsreiche Kunststadt nicht sehr aufgeschlossen. Die seit langem bestehenden Künstlerverbände machten es jüngeren Talenten nicht leicht, ihren Werken einen Platz in den grossen Ausstellungen zu erobern, und von der städtischen und staatlichen Kunstpflege hatten sie nicht viel zu erwarten. So hat eine kleine Künstlerschar, die sich in einem Verband der Juryfreien zusammengefunden hatte, ihre Kameradschaft als einen Kampfbund gegen die Macht der alteingessenen Künstlerschaft verstanden und sich gewiss revolutionärer gefühlt, als sie es tatsächlich war.
Aber wer den Münchner Künstlernachwuchs und seine Arbeiten kennen lernen wollte, musste um 1930 in das Ausstellungslokal gehen, das die Juryfreien an der Ecke der Prinzregentenstrasse gegenüber dem Prinz-Carl-Palais sich eingerichtet hatten. Dort zeigte man nicht nur sich selber, d.h. die Arbeiten der Mit-glieder, sondern auch das, was damals die Münchner städtischen und staatlichen Galerien noch nicht aus-stellten: Abstrakte und Surrealisten mit Albers, Arp, Baumeister, Brancousi, Max Ernst, Mondrian, Picasso, Schwitters usw. und moderne Architektur, die in München nicht, ja noch lange nicht gebaut wurde.
Die Juryfreien veranstalteten Konzerte moderner Musik von Karl Amadeus Hartmann, Milhaud und anderen. Die wenigen, in den Ausstlellungen getätigten Ankäufe vermochten die Kosten nicht zu decken. Darum wurden Faschingsfeste veranstaltet. Sie gehörten zu den amüsantesten aller Münchner Feste.

Als Hitler kam und nationalsozialistische Kulturfeldwebel entschieden, was Kunst sei, was nicht, war das alles zu Ende. Der Verband der Juryfreien gehörte nun zu den verbotenen «kulturbolschewistischen» Vereinigungen. Seine Mitglieder durften nur noch im verborgenen malen, plastische Gebilde aufbauen oder Steine behauen.
Ich habe die Situation, in der sich der Münchner Künstlernachwuchs um 1930 befand, und die Unternehmungen der Juryfreien etwas geschildert. Denn da war das Milieu, in dem der Maler Christian Hess in München lebte. In den Ausstellungen der Juryfreie sah ich zum erstenmal Bilder von ihm. Bei den Feste der Juryfreien habe ich den damals gegen fünfundreissig alten nicht sehr grossen, zierlichen, hageren Man mit schmalem, scharf geschnittenem, intelligentem Gesicht kennen gelernt. Neben den mit bajuwarische Derbheit und fast erschreckender Direktheit des Ausdrucks, gleichwohl empfindsam, mit etwas an van Gogh erinnernden Pinselstrichen gemalten Bildern von Josef Scharl haben mir in den Ausstellungen an de Prinzregentenstrasse die ganz anderen, sehr stillen Bilder von Christian Hess den wohl stärksten Eindruck gemacht.
 Jedenfalls gehören sie unter den ungezählten Bildern, die ich um diese Zeit in Münchner Ausstellungen sah, zu den wenigen, von denen mein Gedächtnis eine deutliche Vorstellung bewahrt hat.

So war es, als ich unlängst in Messina den sorgsam gesammelten, verwahrten und gepflegten Nachlass dieses Malers sah, bei manchen Bildern. eine Wiedergebung mit Bekannten. Die Enttäuschung, die man nicht selten hat, wenn man nach Jahrzehnten Freunde und Bilder einmal wiedersieht, ist ausgeblieben. Im Gegenteil sind vor vielen, auch später gemalten Bildern, die ich jetzt zum ersten Male sah, die früheren Eindrücke bekräftigt worden. Das Versprechen, das die
frühen, im Anfang seiner dreissiger Jahre gaben, ist mit dem späteren Werk in reichem Masse eingelöst worden. Das vermochte ich noch nicht so zu empfinden, als ich 1948 in einer umfangreichen Ausstellung Münchner Künstler einmal wieder ein, zwei Bilder von Hess sah, die sich freilich aus der Menge des Gezeitgen durch ihre kraftvolle, kultivierte Malerei deutlich heraushoben. Hess war damals, als die Künstler in Deutschland wieder ihre Arbeiten öffentlich zeigen konnten, schon tot.
Christian Hess hat es zeitlebens nicht leicht ge-habt. Er hat es sich auch nicht leicht gemacht. Es ging ihm zwar alles leicht von Hand, ob er zeichnete, malte, Marionetten schnitzte, am Ostseestrand mehr spielerisch Sandfiguren aufbaute oder im Atelier sehr ernsthaft modellierte. Aber er war nicht ohne Selbst-kritik und hat seine künstlerische Tätigkeit ernster ge-nommen, als es nach aussen hin in die Erscheinung getreten sein mochte. Er hat in seinen jungen Jahren, nachdem er frühzeitig das Gymnasium verlassen und in der Inns-brucker Gewerbeschule eine erste Ausbildung als Maler hinter sich hatte, mancherlei kunsthandwerkliche Ar-beiten tun müssen, bei einem Glasmaler, in einer ke-ramischen Werkstatt, ehe er 1919 in München die Akademie der bildenden Künste besuchen konnte. Auch nach dem Studium bei Becker-Gundahl hat sich Hess nach Verdienstmöglichkeiten umsehen müssen. In einem Pforzheimer Juwelier fand er wohl nicht einen Mäzen, aber einen Auftraggeber für Kopien nach alten Meistern in den Galerien von Wien und Florenz. Mochte diese Tätigkeit auch seinem bildnerischen Drang und Ehrgeiz nicht Genüge getan haben, so darf man doch annehmen, dass sie der Kultivierung seiner angeborenen Sensibiltät für farbige Werte und Abstufungen zugute gekommen ist. Jedenfalls hat ihn seine Kopier-Tätigkeit nicht, wie Lenbach, zu einer altmeisterlichen Manier verführt. Er lernte von den alten Meistern, erhielt sich aber die Freiheit, für die unmittelbar von der Natur gemachten Farb- und Formerlebnisse einen ihnen angemessenen eigenen Ausdruck zu finden.
Zunächst hielt sich noch vieles, was Hess malte in der Tonigkeit der Münchner Malschule. Sein unermüdlicher Eifer, nach der Natur zu zeichnen und zu malen, liess ihn allmählich freier von ihr werden. Vor allem haben ihm längere Aufenthalte in Italien, der Sommer, den er auf Sizilien bei seiner in Messina verheirateten Schwester verbrachte, bei der Suche nach einem bildnerischen Vokabular, in dem er sich ausdrücken kann, offenbar sehr geholfen. In mehrerer um 1927-28 entstandenen Bildern lässt sich eine gesteigerte Farbigkeit und eine zunehmende Präzision der Formen erkennen.
Das Neptun-Denkmal in Messina, ein keinesweg sehr eindrucksvolles Werk eines klassizistischen Bildhauers, gab den Anstoss zu einer grossgesehenen Komposition, in der das Zuständliche fast ins Mythisch-Allegorische gesteigert erscheint und etwas von einem magischen Romantizismus spürbar wird, der den Betrachter ein wenig an Chirico erinnert. Es zeigt sich zuweilen eine Neigung, die Forme zu übertreiben, und zu expressiver Perspektive, wie in dem Bild der Brücke von Bracciano und in dem vortrefflich mit farbigen Mitteln plastisch modelierten Torso. Eine Häusergruppe wird zu einer schwarz-weissen Komposition abstrakter Kuben. Aus Gemälde von Cezanne geschöpfte Anregungen werden in Stilleben von schöner lyrischer Zuständlichkeit verarbeitet. In Landschaften werden die Farb-und Tonwerte sehr bewusst gestuft. Die gezeichneten und gemalte Akte werden um 1930 bewegter, und in den dreissiger Jahren entstehen auch klar gebaute abstrakte Stilleben.
Für diejenigen, die vor Jahrzehnten immer nur einzelne Bilder von Christian Hess sahen und eine Erinnerung an sie bewahrt haben, öffnet diese Ausstellung seines gesammelten gezeichneten und gemalte Werks - von den plastischen Arbeiten ist leider nichts erhalten geblieben - zum erstenmal den Blick auf die Entwicklung dieses so reich begabten Künstlers. Alle anderen werden mit einem Werk bekannt das Christian Hess in die Reihe der besten und interessantesten Talente stellt, die zwischen den beide Weltkriegen aus der traditionsreichen Münchner Schule hervorgegangen ist und neue Wege gegangen sind.

Hans Eckstein